Lumbrical-Shift-Syndrom

Lumbrical Shift Syndrom



Einleitung


Das Lumbrical-Shift-Syndrom beschreibt das Krankheitsbild einer Muskelzerrung bis hin zum vollständigen Riss oder auch Abriss eines Muskelbauches der Lumbricalesmuskulatur. Die Lumbricales sind intrinsische Muskeln was heißt das ihr Ursprung und Ansatz in der Hand liegen. Sie sorgen für eine Beugung im Grundgelenk und für eine Streckung in den beiden anderen Fingergelenken. Die Muskeln haben ihren Ursprung an den Beugesehnen des tiefen Fingerbeugers. Wird also ein Finger gebeugt rutscht der Ursprung des Muskels in Richtung Handgelenk. Zu einem Shift also einer Verschiebung kommt es wenn ein Finger maximal gestreckt ist und der nebenliegende maximal gebeugt. In diesem Zustand sind Ursprung und Ansatz maximal weit voneinander entfernt. 



Verletzungshergang


Zum Lumbrical-Shift-Syndrom kann es nur bei einfingriger Belastung des Ring- oder Kleinfingers (Abb. Hängen in den Ringfingern) kommen da nur diese zwei Muskeln ihren Ursprung an jeweils zwei Beugesehnen haben. Der 3. Muskel entspringt z. B. von den Beugesehnen des Mittel- und Ringfingers und zieht auf die Streckseite des Ringfingers. Kommt es nun zu Kraftspitzen während des Haltens eines Einfingerlochs mit dem Ringfinger während alle anderen Finger stark gebeugt sind kann es zu Schädigungen im Bereich des Muskels kommen.

Beim Kleinfinger ist es genau der selbe Mechanismus der zur Pathologie führt. Der Ursprung findet sich hier an den Beugesehnen des Ring- und Kleinfingers und zieht auf die Streckseite des Kleinfingers. Auch hier kann es zur gleichen Schädigung kommen während ein Einfingerloch mit dem kleinen Finger gehalten wird während die restlichen stark angebeugt sind.



Häufigkeit


Dieses Krankheitsbild ist glücklicherweise nur sehr selten zu sehen. Dies hängt wahrscheinlich damit zusammen das die isolierte Fingerkraft des Ring- und Kleinfingers erst ab einem sehr hohen Niveau trainiert wird und Einfingerlöcher die eine Größe aufweisen das gerade einmal das letzte Fingerglied dieser zwei Finger passt in Hallen so gut wie keine Anwendung finden und höchstens am Fels anzutreffen sind. Dank des typischen Unfallmechanismus kann es oft schon in der Anamnese klar sein worum es sich handelt. Getestet wird das Halten eines Einfingerlochs wie während des Unfallhergangs. Dies verursacht die typischen Schmerzen. Das Halten von Zwei oder Dreifingerlöchern verursacht meist gar keine Schmerzen da es hier nicht zum Shift kommt. Jetzt muss nur noch das Ausmaß der Verletzung bestimmt werden.



Behandlung


Die Lumbricales Verletzung fällt unter die indirekten Muskelverletzungen. D. h. Sie wird durch exzentrische Momente ausgelößt während der Muskel kontrahiert und ohne externe komprimierende Kraft. 2012 einigte sich eine Expertengruppe auf folgende Einteilung der Muskelverletzungen:


Tabelle 1: Einteilung von Muskelläsionen (mod. Müller-Wohlfahrt et al. 2013)

Ursache Impairment Ausmaß Subgruppe
indirekt (ohne Gegnerkontakt) funktionell (kein MRT Befund) Typ 1: Überlastung/Ermüdung Typ 1a: starke Ermüdung nach Belastung
indirekt (ohne Gegnerkontakt) funktionell (kein MRT Befund) Typ 1: Überlastung/Ermüdung Typ 1b: "Muskelkater"
indirekt (ohne Gegnerkontakt) funktionell (kein MRT Befund) Typ 2: Neuromuskulär Typ 2a: mit der Wirbelsäule assoziiert
indirekt (ohne Gegnerkontakt) funktionell (kein MRT Befund) Typ 2: Neuromuskulär Typ 2b: reziproke Inhibition durch muskuläre Dysbalance
indirekt (ohne Gegnerkontakt) strukturell (Befund im MRT) Typ 3: partielle Ruptur Typ 3a: primär (wenige) Faszikel betroffen
indirekt (ohne Gegnerkontakt) strukturell (Befund im MRT) Typ 3: partielle Ruptur Typ 3b: sekundär (mehrere) Faszikel betroffen
indirekt (ohne Gegnerkontakt) strukturell (Befund im MRT) Typ 4: totale Ruptur kompletter Muskel- und/oder Sehnenabriss
direkt (mit Gegnerkontakt) strukturell (Befund im MRT) Quetschung des Muskels durch externe Kraft

Tabelle 2: Heilungsdauer von Muskelverletzungen

Art der Schädigung Entzündungsphase Proliferationsphase Remodellierungsphase
Dehnung oder Kontusion (Grad 1-3) ca. 2 Tage 7-14 Tage kontraktile Komponente ab der 3. Woche
Dehnung oder Kontusion (Grad 1-3) ca. 2 Tage 14-21 Tage bindegewebige Narbe ab der 3. Woche


Konservative Nachbehandlung Muskelfaserriss


Entzündungsphase Tag 0 bis ca. Tag 7


In den ersten Tagen direkt nach der Verletzung kann ein Ruheschmerz (C-Faser-Schmerz)vorhanden sein. In dieser Zeit verhält man sich folgendermaßen. Der Ruheschmerz wird subjektiv auf einer Skala von 0-10 eingestuft. Dabei stellt 0 gar keinen und 10 maximalen Schmerz dar. Der Finger darf in dieser Zeit beübt und bewegt werden. Dabei sollte darauf geachtet werden das sich der Ruheschmerz um höchstens 1-2 Punkte verschlechtert und spätestens 3 Stunden später wieder auf sein ursprüngliches Niveau gefallen ist.


Sobald sich der Ruheschmerz verflüchtigt hat, kann ein unspezifisches Training durchgeführt werden. Das bedeutet das der Alltag so wie sportlich (damit ist nicht kletterspezifische Belastung gemeint sondern beispielsweise Klimmzüge, Hangwaage, etc.) alles aktiv betrieben werden darf.

Ein a-Delta Schmerz ist dabei erlaubt.

Ein a-Delta Schmerz ist ein Schmerz, der bei einer Belastung auftritt, jedoch nach der Belastung verschwindet oder sich um mindestens 50% reduziert. Dieser Schmerz gibt einen sehr guten Richtwert ab an den man sich halten kann. Er sollte wenn er auftritt subjektiv den Wert 4 auf einer Skala von 0-10 nicht überschreiten und dann direkt nach der Belastung beispielsweise auf mindestens 2, besser 0 sinken. Es kann passieren das Anfangs der Schmerz nach Belastungen generell etwas schlechter sein kann. Es sollte darauf geachtet werden, das die Problematik spätestens am nächsten morgen nicht mehr stärker und auf ihr ursprüngliches Niveau vom Vortag gesunken ist. Ist er am nächsten Tag schlimmer als am Vortag würde dies bedeuten das man es am Vortag übertrieben hat. Sollte dieser Zustand eintreten ist angeraten es etwas langsamer anzugehen bis die Symptome ihr altes Niveau wieder erreicht haben.

In dieser Phase (Tag 0-7) sollte der Muskel alle vier bis sechs Stunden rhythmisch oder auch statisch gedehnt werden.

Dies ist wichtig weil der Körper neue Blutgefäße einbaut. Diese sind jedoch nicht dehnbar. Daher ist es wichtig die funktionelle Länge des Muskels, die er vor dem Trauma hatte, schnellstmöglich wieder zu erreichen.

Die Bewegung ist wichtig für die Myoblasten. Aus ihnen entstehen später die neuen Muskelzellkerne. Passiert dies nicht kommt es zu einer unwiderruflichen Vernarbung des Gewebes. Es setzt eine Fibrosis ein. Das heißt es bildet sich Bindegewebe innerhalb des Muskels. Dies ist unbedingt zu vermeiden weil der Prozess nicht mehr umkehrbar ist!

Auch der Schmerz und das Ödem werden durch die Bewegung positiv beeinflusst.

Durchblutungsfördernde Maßnahmen (Wärme, Massage, Injektionen...) sind in dieser Phase Kontraindiziert dar Fresszellen (Makrophagen) hier sehr dominant sind und immer anaerob glykolytisch arbeiten. Auch eine Gabe von Enzymen sollte vermieden werden. Diese sollten eher über eine optimale Ernährung abgedeckt werden.

Keine tierischen Eiweiße (enthält Purin und wirkt schmerzverstärkend), kein Alkohol, keine gesättigten Fette und keine „hellen“ Kohlenhydrate machen in dieser Phase Sinn.

Eine absolute Kontraindikation sollte auch die Eisanwendung darstellen!

Es gibt keine wissenschaftliche Untersuchung oder Literatur die einen positiven Zusammenhang zwischen Wundheilung und Eisbehandlung belegt. (Wingerden 1988)



Proliferationsphase Tag 7 bis Tag 16


Hier haben die Fresszellen (Makrophagen) ihre Arbeit beendet. Sie werden durch das Hormon (HIF) abgeschaltet und stimuliert gleichzeitig die Fibroblasten also die aufbauenden Zellen.


In dieser Phase kann ein eindimansionales Training durchgeführt werden (Abb. Eindimensionale Übungen für die Lumbricales). Dies beschreibt die einfachste Muskelarbeit gegen einen Widerstand. Es wird nur mit dem konzentrischen Reiz gearbeitet welcher drei Sekunden durchgeführt wird. Eine schnellere Bewegungsausführung ist gefährlicher für das heilende Gewebe. Die Form ist hier wichtiger als der Widerstand. Außerdem geht es hier noch nicht darum ein Maximalgewicht zu ermitteln. Es sollte mit niedrigen Wiederholungszahlen begonnen werden dar hohe nicht Sinnvoll sind weil das Laktat das dabei entstehen würde in dieser Phase einen Störfaktor darstellen kann. Dann arbeitet man sich von 3-5x10-20 auf 4-6x20 Wiederholungen hoch.

In der exzentrischen Phase muss das Gewicht abgenommen werden.

Mehr als ein a-Delta Schmerz (wie oben beschrieben) sollte nicht ausgelöst werden.



Proliferationsphase II Tag 16 bis Tag 21


Das oben beschriebene Training kann nun schneller durchgeführt werden. Die konzentrische Phase dauert nun nur noch eine Sekunde. Das Gewicht sollte für die exzentrische Phase trotzdem immer noch abgenommen werden.

Zusätzlich können nun mehrdimensionale Übungen in der oben beschriebenen Intensität (3 Sekunden konzentisch) durchgeführt werden. Hier wird nicht nur die Hauptfunktion des Muskels beübt sondern auch seine weiteren Funktionen (Abb. Mehrdimensionale Übung Lumbricales bspw. Pinch).

Es wird sich immer noch am a-Delta Schmerz orientiert (wie oben beschrieben). Auch hier kann das Laktat immer noch den Aufbau des Kollagen beeinflussen. Daher wird sich auch hier von 3-5x10-20 auf 4-6x20 Wiederholungen hochgearbeitet.



Maturationsphase / Remodellierungsphase ab dem 21. Tag


Falls nach dem Trauma passiert worden ist, Eis angewendet worden ist oder Kompression und Eis angewendet wurde dauert die Rehabilitation länger und es sollte lieber noch ein Paar Tage gewartet werden.


Ansonsten kann nun damit angefangen werden die exzentrische Phase zu trainieren. Das heißt das Training kann wie gewohnt durchgeführt werden. Die konzentrische Phase wird in einer Sekunde durchgeführt, am Ende wird nicht gehalten sondern direkt in die exzentrische Phase übergegnagen die 3 Sekunden dauert.

Auch die lineare Progression kann hier wieder aufgenommen werden und der Widerstand sollte sich regelmäßig erhöhen vorausgesetzt das gesamte Bewegungsausmaß kann durchgeführt werden.

Ansonsten sollte erst der vollständige Room of Motion erarbeitet werden.

Der Muskel sollte alle möglichen seiner Funktionen durchführen und die spezifische Belastung und auch der Pathomechanismus also der Mechanismus durch den das Trauma entstaden ist sollte beübt werden um das Gewebe stabiler zu machen als es vorher war.


Nun kommen wir zur Prävention. Zu dem was weiterhin durchgeführt werden muss damit es später nicht zu einer Retraumatisierung kommt! Auch das psychische Vertrauen in das verletzte Gewebe wird dadurch verbessert.


Den betroffenen Muskel direkt nach dem Trauma mechanisch wieder zu Belasten führt zu einer vermehrten Narbenbildung. Desweiteren kann die nervale Versorgung ausbleiben und der Muskel arthrophiert irreversibel.

Um dies zu vermeiden ist eine initiale Immobilisation bis die akute Entzündungsphase abgeschlossen ist also ca. 2 Tage zu empfehlen.

Entzündungshemmende Medikamente bei Muskelverletzungen sollten nicht eingenommen werden da die Regeneration des Gewebes gehemmt werden könnte empfehlen diverse Autoren einen umsichtigeren Umgang mit der Medikation.

Nach dieser Phase sind Querverbindungen zwischen den intakten Muskelzellen entstanden und auch die fortschreitenden Narbenbildung führt zu einer Stabilisierung.

Jetzt kann mit schmerzfreien Übungen und Dehnungen begonnen werden. Fürs erste wird mit isometrischen Widerständen gearbeitet d. h. Man arbeitet gegen einen Widerstand ohne das sich der Muskel verkürzt oder verlängert.

Darauf folgen konzentrische Übungen bei denen sich der Muskel gegen einen Widerstand verkürzt und exzentrische Übungen bei denen sich der Muskel gegen einen Widerstand verlängert wobei exzentrische Übungen den konzentrischen vorzuziehen sind da sie nachgewiesenermaßen zu einer schnelleren Wiedereingliederung in den Sport führen.

Eine stabile Narbe besteht nach 10-14 Tagen.

Wieder am Klettersport teilzunehmen ist jedoch wenn es nicht um wirtschaftliche Interessen geht erst ab dem 21. nach dem Trauma zu denken.

Ab hier handeln wir nach dem Graded-Activity-Programm welches mit anderen aktiven Therapieansätzen derzeit den Goldstandart bietet.

Eine Indikation zur Operation bietet dieses Krankheitsbild selbst bei vollständigem Riss des Muskels nicht.

Bei zu später Feststellung des Problems kann es zu Komplikationen kommen die z. B. das schmerzfreie Halten von Einfingerlöchern mit dem Ring- oder kleinfinger nicht mehr möglich machen. 



Beispielbehandlung


Eine Nachbehandlung des Lumbrical-Shift-Syndrom könnte folgendermaßen aussehen.

Eine Ruhigstellung durch Buddytape über die ersten zwei tage damit keine weiteren Scherkräfte entstehen können. Entweder werden Mittel- und Ringfinger oder Ring- und Kleinfinger zusammengetapet.

Nach frühestens zwei Tagen kann mit dem Dehnen begonnen werden dabei ist die Dehnposition die Position in der man sich die Verletzung zugezogen hat. Beispielsweise versucht man den Ringfinger zu strecken während man versucht die restlichen Finger zu beugen. Auch mit isometrischen Anspannungen kann jetzt schon begonnen werden. Dabei wird die oben schon beschriebene Funktion des Muskels beübt. Eine Streckung in den beiden Endgliedern des Fingers oder das Beugen im Grundgelenk gegen Widerstand sind mögliche Übungen.

Die Übungen werden dann gesteigert und konzentrisch bzw. exzentrisch durchgeführt.

Die ersten 7 Tage wird in einem schmerzfreien Rahmen gearbeitet. Ab dem 7. Tag darf es zu moderaten Schmerzen bei der Beübung kommen die jedoch auf der VAS-Skals nicht über 3 liegen sollten. D. h. Wenn man den Schmerz auf einer Skala von 0 bis 10 beurteilen müsste sollte der wahrgenommene Schmerz nicht über 3 liegen. 



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